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Aus dem Leben eines Lektors

Es ist ein alter Hut, dass vier Augen mehr sehen als zwei. Manchmal allerdings, wenn die Sterne genau richtig stehen und der Mond im siebten Haus schwebt – oder was auch immer – genügen keine 32. Das ist meine absolute Lieblings-Geschichte und die erzähle ich wirklich jedem, der’s hören will (meistens jedoch denen, die es nicht hören wollen). Szenerie: Lektorats-Workshop, irgendwann vor ein paar Jahren. Sechzehn hart arbeitende LektorInnen, darunter meine Wenigkeit, sitzen in einem Raum, gebeugt über ihre Übungs-Manuskripte. Die Rotstifte fliegen nur so übers Papier. Ich stolpere immer wieder über eine Stelle im Text: Stiftung Warentest. Irgendwas sieht daran einfach komisch aus. Ich kann nicht sagen, was genau es ist. Vielleicht liegt’s an der Schriftart? Werde ich blöd? Oder verrückt? Wird es jemand merken, wenn ich mein Handy zücke und unauffällig im Duden nachschaue? Ich versuche, weiterzulesen, aber das dumme Wort lässt mir keine Ruhe.

 

Ich starre.

 

Und starre.

 

Offenbare deine Geheimnisse, du infernalische Ansammlung von Buchstaben!

 

Und dann fällt mir die Erkenntnis auf den Kopf wie ein Eimer Wasser in der Ice-Bucket-Challenge.

 

Das ist die Sache mit dem menschlichen Gehirn: Es liebt Muster. Sucht den ganzen Tag danach. Findet sie überall. Vor fünfzigtausend Jahren, als man noch gemütlich in der Höhle saß und sich über die ökologischen Langzeitfolgen dieses neumodischen Feuer-Dingens den Kopf zerbrach, war das vielleicht sogar noch nützlich, um ein großes, haariges Etwas mit Zähnen im Buschwerk ausfindig zu machen. Im 21. Jahrhundert bedeutet es nur eins: Das Gehirn hat eine eingebaute Autokorrektur und überliest ständig die einfachsten Fehler. Guck mal, ich bin das Gehirn, ich bin so schlau, ich erkenne den Sinn von Wörtern selbst dann, wenn sie grob falsch geschrieben sind! Wer hat dir erlaubt, Buchstaben einfach neu anzuordnen, Gehirn, hm?

 

Denn was dort stand war: Stift- und Warentest.

 

Gut gemacht, präfrontaler Kortex.

 

Es ist endlich Zeit, die Manuskripte zu vergleichen. Sechzehn LektorInnen beömmeln sich über die gefundenen Fehler und suchen sich ihre Lieblinge aus. Ich dazwischen frohgemut: „Der Stift- und Warentest, das war ‘n Knüller.“

 

Ich erwarte zustimmendes Lachen und ernte plötzliche Stille.

 

Dann die furchtbare Frage: „Was? Stift- und Warentest, wo?“

 

Alle blättern zur selben Seite.

 

Ich habe mal gehört, dass Software-Programmierer etwas anwenden, das sich Rubber Ducky Debugging nennt. Dabei erklären sie den nicht-funktionierenden Code einer Gummiente, um Fehler zu finden. Das Problem laut zu erklären soll wirklich helfen; die Ente wird dabei aber meistens wütend durch den Raum geworfen.

 

Die Atmosphäre im Raum schwingt um. So muss es in einer IT-Abteilung zugehen kurz bevor die Ente gegen die Wand klatscht.

 

Die Flüche werden langsam lauter, als wir alle gemeinsam feststellen, dass 32 Augen den blöden Fehler überlesen haben. Manchmal kann man einfach nicht genug von den Dingern haben. Manuskript, sag Hallo zur Wand.

 

Na schön, die Manuskripte flogen nicht wirklich. Aber wir waren sehr nah dran.

 

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